Artikel im Mannheimer Morgen (Marc Stevermüer)
DOSSENHEIM. „Perry“ will nicht so recht. Das Pferd bleibt einfach stehen – und Robert Schulze steht im wahrsten Sinne des Wortes vor einem großen und schweren Problem. „600 Kilo bringt man ja mal nicht so einfach zum Laufen“, sagt der Handball-Schiedsrichter, der mit seiner misslichen Lage aber ziemlich lässig umgeht. Den 33-Jährigen bringt eben so schnell nichts aus der Ruhe, dafür hat er schon zu viel erlebt. Zusammen mit seinem langjährigen Kumpel Tobias Tönnies pfeift Schulze sowohl in der Bundesliga als auch auf internationaler Bühne. Keine Frage: Sie sind eines der bekanntestes deutschen Duos – und vor allem schon sehr lange dabei.
Die Magdeburger kennen sich seit ihrem sechsten Lebensjahr, seit 1999 agieren die beiden Freunde gemeinsam als Schiedsrichter-Duo. Weltmeisterschaft, Champions League, Europapokal, Panamerikaspiele – sie kennen die große Bühne und gehören zu den Besten ihrer Zunft.
Noch souveräner werden
Doch darauf ruhen sie sich nicht aus. Das Gespann Schulze/Tönnies will dazulernen und ist an einem heißen Sommertag in Dossenheim bei Jürgen Boss und Tina Rapparlie zu Gast. Der Pädagoge und die Reitbasispädagogin wollen den erfahrenen Unparteiischen helfen, noch sicherer und souveräner auf dem Feld zu wirken, die richtige Körpersprache zu zeigen.
Charismatraining lautet der Fachbegriff – und genau das funktioniert ziemlich gut mit Pferden. Wa- rum? „Das sind sehr schlaue Tiere. Sie spüren genau, wie sicher oder unsicher jemand ist. Man muss ihnen mit Haltung und Überzeugung gegenübertreten“, erklärt Boss und zieht den Vergleich zu Unparteiischen: „Sie müssen auf dem Feld gegenüber den Spielern ebenfalls souverän, deeskalierend und unvoreingenommen auftreten.“ Oder anders ausgedrückt: Sie sollen eine Linie und die Kontrolle haben.
Das gelingt Tönnies ziemlich gut. Er hält die Zügel im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand. „Du bist der Chef“, ruft Rapparlie dem 33-Jährigen lobend zu: „Pferden muss man konsequent gegenübertreten, darf sie aber nicht unterdrücken. Man muss fair bleiben.“ Im Idealfall sieht so auch das Verhältnis zwischen Schiedsrichter und Handballprofi aus.
Tönnies hat sicht- und spürbar Spaß daran, dass ihm „Tenora“ auf Schritt und Tritt durch den warmen Sand unweit der Schleuse folgt. Er bringt die richtige Distanz zwischen sich und das Tier, agiert ruhig und gleichermaßen autoritär und fühlt sich dabei an seine Arbeit als Schiedsrichter erinnert: „Auf dem Feld geht es auch nicht darum, wie ein Oberlehrer zu wirken. Wir suchen den Kontakt und nicht den Konflikt.“
Nach einer 15-minütigen Eingewöhnungsphase hat sich auch Schulze den nötigen Respekt verschafft. Er macht klare Ansagen, tritt überzeugend auf – und prompt folgt „Perry“ ihm. „Zu Beginn war ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt“, gibt der 33-Jährige erfrischend offen und ehrlich zu. Die Folgen waren fatal: Das Tier wollte nicht so wie er. „Wenn Pferde sehen, dass du denkst, ist es vorbei“, erklärt Rapparlie.
Schulze findet es „einfach nur krass“, was da im eigenen Unterbewusstsein abgeht und wie das auf andere wirkt: „Wir Menschen sind manchmal dumm und machen uns das Leben selbst schwer. So einem Pferd macht man nichts vor.“
Wie auch sein Kollege Tönnies zieht er an diesem Nachmittag immer wieder Parallelen zu ihrer ge- meinsamen Leidenschaft: der Schiedsrichterei. Denn um Wahrnehmung und Wirkung ginge es ja auch, wenn man auf dem Feld stehe.
Klare Signale
„Wir wollen uns das Vertrauen der Spieler durch klare Signale erarbeiten, damit sie wissen, wie weit sie gehen können“, sagt Schulze, der nach der lehrreichen Einheit in Dossenheim bereits einige Partien gepfiffen und viel mitgenommen hat: „Grundsätzlich gilt: Wenn ich als Schiedsrichter eine falsche Entscheidung treffe, darf ich den Spaß nicht verlieren. Man muss Fehler akzeptieren und darf darüber nicht nachdenken. Denn das lenkt ab – und schon passiert der nächste Fehler.“
Um das Konfliktpotenzial zu minimieren und die bisweilen emotionalen Ausbrüche manch eines Trainers in Grenzen zu halten, haben Schulze/Tönnies seit dem Charismatraining versucht, mehr nonverbal und mit Blickkontakt zu arbeiten. Die Ergebnisse, sagen die beiden Unparteiischen, seien verblüffend, bisweilen sogar erstaunlich gewesen. „Es gab andere Reaktionen auf der Trainerbank. Früher haben wir strittige Situationen den Trainern erklärt und es wurde bisweilen hitzig diskutiert. Jetzt hat oft ein ruhiger Blick gereicht und das Thema war erledigt.“ All das habe richtig Spaß gemacht – ist manchmal aber auch genauso schwer wie 600 Kilo zum Laufen zu bringen.
Lesen Sie auch den Blogbeitrag zur Sendung in der Landesschau in der ARD vom 20.09.2017